9 Arbeitsmittel analysieren
Lernziele
- Sie kennen ein Instrument zur Analyse von Arbeitsmitteln.
- Sie können das Analyseinstrument tätigkeitstheoretisch einordnen.
- Sie sind, ggf. mit Unterstützung, in der Lage, den Analyseprozess für Arbeitsmittel durchzuführen.
Material
9.1 ACAT-Modell
Um Arbeitsmittel (fundiert) analysieren zu können, sollte sich diese Analyse auf eine zugrundliegende Theorie (über das Lernen und Lehren) stützen und strukturiert ablaufen. Ein Vorschlag hierfür bietet das auf die Tätigkeitstheorie aufbauende Modell Artifact-Centric Activity Theory (ACAT)15 von Ladel & Kortenkamp (2013), siehe Abbildung 9.1.
Zunächst einmal ist auf der Hauptachse das Beziehungsgefüge aus Subjekt, Objekt und Artefakt dargestellt, das eine Grundannahme der Tätigkeitstheorie darstellt (siehe Abschnitt 7.1.1). Es ist hier jedoch von einem Artefakt die Rede. Damit soll ausgedrückt werden, dass es sich um ein künstlich geschaffenes Medium handelt, das zum Zwecke des Wissenserwerbs von einer mit dem Lerngegenstand vertrauten Person (z. B. Lehrkraft oder Forscherin bzw. Forscher) entwickelt worden ist. Erst mit dem tatsächlichen und zielgerichteten Einsatz durch die Schülerinnen und Schüler wird es zum Werkzeug, weil erst dann Internalisierungs- und Externalisierungsprozesse stattfinden.16 Diese Internalisierung- und Externalisierungsprozesse werden hier im Modell auf der Hauptachse dargestellt.
Das obere rechte Dreieck beschreibt die spezifische Gestaltung des Artefakts über sogenannte Regeln. Die Regeln ergeben sich einerseits aus dem mathematischen Gegenstand selbst. Andererseits stammen sie aus weiteren Wissenschaftsbereichen wie der Psychologie, allgemeinen Didaktik, Multimedia-Design usw. und wirken wieder zurück auf das mathematische Objekt, indem die Regeln einen Einfluss darauf haben, welche Eigenschaften des Objektes repräsentiert werden. Wenn beispielsweise ein Spielwürfel aus Design-Gründen abgerundete Ecken und Kanten hat (damit sich die spielenden Kinder nicht verletzen), kann sich dies auf ein (falsches) mathematisches Verständnis des Würfel-Begriffs auswirken. Daher ist ein solcher Spielwürfel ungeeignet als Arbeitsmittel für den Erstkontakt mit dem entsprechenden Begriff. Aus den Regeln heraus wird das Artefakt gestaltet.
Im unteren linken Dreieck wird nun der Einsatz des Artefakts in der Klassensituation dargestellt. Hierbei spielen z. B. konkrete Aufgabenstellungen eine Rolle, die die Schülerinnen und Schüler zur zielgereichteten Arbeit mit dem Artefakt anregen. Auch ist die Rolle der Lehrkraft im Lehr-Lern-Prozess von Bedeutung, ebenso wie die methodische Ausgestaltung der Artefakt-Nutzung, ggf. auch im Zusammenspiel mit weiteren Artefakten. Dieses komplexe Beziehungsgefüge wird auch als instrumental orchestration bezeichnet (siehe z. B. Drijvers et al., 2010, S. 214 f.).
9.2 Analyseschritte
Larkin et al. (2019) stellen dar, wie sich das ACAT-Modell als Analyseinstrument für Unterrichtsapps einsetzen lässt, eine Übersetzung des Beurteilungsleitfadens findet sich bei Etzold et al. (2018) und eine für Lehrkräfte angepasste Variante bieten Kortenkamp et al. (2019). Daran angelehnt bieten sich folgende Prozessschritte für die Analyse eines Arbeitsmittels an:
Identifizieren des mathematischen Objekts
Zunächst muss klar sein, für welches mathematische Objekt – also für welchen Begriff, welchen Inhalt, welches Thema – das Arbeitsmittel eingesetzt werden soll. Sind mehrere mathematische Objekte möglich, muss die Analyse auch für jedes getrennt erfolgen, da das Arbeitsmittel ggf. unterschiedlich gut geeignet sein kann. Theoretischer Hintergrund ist, dass ohne Objekt keine zielgerichtete Handlung eines Subjekts möglich ist. Daher können Handlungen von Schülerinnen und Schülern mit einem Arbeitsmittel nur dann bewertet werden, wenn Klarheit bezüglich des (mathematischen) Objekts besteht.
Mögliche Quellen hierfür sind die Bezeichnung des Arbeitsmittels bzw. eine offizielle Beschreibung, Zusatzmaterialien zum Arbeitsmittel (wie Arbeitsblätter, Handreichungen, …), externe Referenzen (z. B. Empfehlungen durch Dritte) oder auch das selbstständige Ausprobieren des Arbeitsmittels.
Herausstellen der Interaktionsmöglichkeiten mit dem mathematischen Objekt über das Arbeitsmittel
Anschließend kann man sich Gedanken darüber machen, welche Interaktionsmöglichkeiten das Arbeitsmittel den Schülerinnen und Schülern mit dem mathematischen Objekt anbietet. Theoretischer Hintergrund hierfür ist, dass externe Handlungen des Subjekts (zum Beispiel eine pinch-to-zoom-Geste zum Vergrößern oder Verkleinern einer Landkarte auf einem Tablet-Bildschirm) interne Handlungen wiederspiegeln (hier: zentrische Streckungen), die das Verständnis repräsentieren – man spricht von Externalisierung. Ebenso führen externe Handlungen aber auch zum Aufbau interner Repräsentationen (hier z. B.: Veränderung der Fingerposition zu Beginn der Handlung ändert das Streckungszentrum) – man spricht von Internalisierung. Um diese Nutzerinteraktion besser zu verstehen und in Bezug auf das mathematische Objekt zu sehen, ist es hilfreich, den Prozess zwischen Subjekt und Objekt am Artefakt (dem Arbeitsmittel) aufzutrennen und in Teilfragen zu beantworten:
S → A: Welche Handlungen sind mit dem Arbeitsmittel möglich?
A → O: Wie repräsentiert das Arbeitsmittel das mathematische Objekt?
O → A: Wie beeinflusst das Objekt das Verhalten des Arbeitsmittels?
A → S: Welche Erfahrungen können Schülerinnen und Schüler dadurch machen?Eine mögliche Quelle ist die eigene, systematische Nutzung des Arbeitsmittels.
Analyse der Entwicklung der Interaktion
Nun werden die möglichen Interaktionen qualitativ strukturiert, um die mögliche Entwicklung des Lernens der Schülerinnen und Schüler besser zu beschreiben. Die Strukturierung bezieht sich auf die in der Tätigkeitstheorie übliche Unterscheidung in Tätigkeiten, Handlungen und Operationen:
- Tätigkeiten sind übergeordnete, an Motiven orientierte Interaktionen (z. B. das Lesen einer Landkarte).
- Handlungen sind zielgerichtete, individuelle Interaktionen, die die Tätigkeit realisieren (z. B. das Vergrößern eines Kartenausschnittes, um diesen detaillierter betrachten zu können).
- Operationen sind zur Handlungsausführung notwendige Interaktionen, die jedoch kein weiteres Nachdenken erfordern und ggf. instrumentellen Zwängen unterworfen sind (z. B. das Ausführen der pinch-to-zoom-Geste oder das Verschieben der Karte mit dem Finger).
In einem erfolgreichen Lernprozess verschieben sich (durch Verinnerlichungsprozesse) insbesondere Handlungen zu Operationen, um darauf neue, komplexere Handlungen aufbauen zu können. Es ist also darzustellen, wie eine dartige Entwicklung mithilfe des Arbeitsmittels unterstützt werden kann.
Mögliche Quellen sind hypothetische Diskussionen potenzieller Entwicklungen, aber auch empirische Untersuchungen.
Überprüfung der Eignung des Arbeitsmittels für die Vermittlung des mathematischen Objekts
In diesem Schritt wird die Realisierung des Arbeitsmittels für das spezielle mathematische Objekt mit den Erkenntnissen aus Fachdidaktik, Fachwissenschaft und Psychologie verglichen. Dabei wird geprüft, ob die in den Schritten 2 und 3 analysierten Interaktionen tatsächlich die aus Sicht der Mathematik(-didaktik) erwünschten oder benötigten Vorstellungen, Erfahrungen und Kompetenzen unterstützen. Im ACAT-Modell entspricht dies der regelgeleiteten Gestaltung des Artefakts, wobei diese Regeln wiederum aus mathematikdidaktischen Überlegungen, allgemeinem Multimediadesign, usw. stammen.
Mögliche Quellen für diesen Schritt sind neben der Synthese der vorherigen Diskussionen v. a. auch wissenschaftliche Referenzen und Veröffentlichungen.
Möglichkeiten zur Verwendung des Arbeitsmittels in der Klassensituation
In einem letzten Schritt werden Möglichkeiten dargestellt, wie der Einsatz des Arbeitsmittels im Unterricht konkret aussehen kann. Folgende Fragen bieten eine Orientierung:
- Ist das Arbeitsmittel für individuelle Arbeit, Partnerarbeit oder Kleingruppenarbeit geeignet?
- Was sind mögliche Impulse und Aufgabenstellungen, die Sie als Lehrerin oder Lehrer geben können?
- Welche Differenzierungsmaßnahmen und verschiedenen Schwierigkeitsgrade sind möglich?
- Handelt es sich um Übungsmaterial oder dient es zur Einführung neuer Lerninhalte und dem Aufbau von Grundvorstellungen?
- Welche Voraussetzungen/Kompetenzen werden an die Schülerinnen und Schüler für die Nutzung des Arbeitsmittels gestellt?
- Wie können Diskussionen bzw. Interaktionen innerhalb der Klasse mithilfe des Arbeitsmittels direkt oder indirekt gefördert werden?
Tätigkeitstheoretischer Hintergrund ist hierbei, dass Lernen niemals als eine rein individuelle Tätigkeit eines Schülers oder einer Schülerin angenommen wird, sondern immer im gesellschaftlichen und sozialen Kontext geschieht. Oder mit anderen Worten: »Im Unterricht agiert immer ein pädagogisches Gesamtsubjekt« (Giest & Lompscher, 2004, S. 112).
Mögliche Quellen für derarbeite Überlegungen sind Materialien für Lehrerinnen und Lehrer, wissenschaftliche Ergebnisse, bspw. aus experimentellen Studien bzw. Versuchsdurchführungen im Unterricht.
Diese fünf Schritte sprechen damit jeweils verschiedene Elemente des ACAT-Modells an. Abbildung 9.2 fasst dies noch einmal zusammen.
Am Beispiel der App Klipp Klapp (Etzold, 2020) stellt Stein (2018) eine entsprechende Analyse dar, die englischsprachige Übersetzung ist bei Larkin et al. (2019, S. 85 ff.) zu finden.
Im Übrigen kann ein auf diese Weise als erfolgreich beurteiltes Arbeitsmittel den Charakter eines Lernmodells annehmen, wie es im Abschnitts 7.1.3 charakterisiert wird.
9.3 Zum Nachbereiten
Lesen Sie als Hintergrundtheorie zur Analyse von Unterrichtsapps den Artikel von Larkin et al. (2019).
Führen Sie nach der hier vorgestellten Schrittfolge eine Analyse des Arbeitsmittels Zahlenstrahl durch (siehe z. B. auch Schulz, 2018).
References
übersetzt: Artefakt-zentrierte Tätigkeitstheorie↩︎
Die Entwicklung vom Artefakt zum Werkzeug wird auch als Instrumentelle Genese bezeichnet (vgl. Etzold, 2021, S. 101 f.).↩︎