8 Tätigkeitstheorie und Lernen

Ziele

  • Sie kennen Grundideen der Tätigkeitstheorie, insbesondere bezüglich Lehr-Lern-Prozesse.
  • Sie könnten den Zusammenhang zwischen lernpsychologischen Hintergründen und der Phasenstruktur von Unterricht nachvollziehen.
  • Sie können die Notwendigkeit von Orientierungshilfen begründen und die etappenweise Ausbildung geistiger Handlungen beschreiben.

Material

8.1 Lerntätigkeit und Lernhandlung

Eine Grundannahme der Tätigkeitstheorie, die auf Vygotskijs psychologische Arbeiten aus den 1920er Jahren in der Sowjetunion zurück geht, ist das Verständnis, dass sich Individuen aktiv-handelnd mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, die Umwelt dabei in der Interaktion mit der Gesellschaft verändern, und beide Prozesse wiederum psychisch im Individuum abgebildet werden. Dies widerspricht bspw. der behavioristischen Annahme, dass man sich seiner Umwelt einfach nur anpasst, aber es ist auch nicht mit einer streng konstruktivistischen Annahme zu verwechseln, nach der Individuen ein Abbild der Umwelt kognitiv rekonstruieren. Die Tätigkeitstheorie kann eher als »(moderat) konstruktivistische[r][..] Ansatz« bezeichnet werden (Giest, 2016, S. 47).

Zu betonen ist dabei die beiderseitige Wirkrichtung: Sowohl das Individuum wirkt auf die Umwelt ein (und verändert sie, es kommt zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung), als auch die Umwelt auf das Individuum (was zur Persönlichkeitsentwicklung führt). Beide Prozesse sind dabei nicht voneinander zu trennen. Eine solche Interaktion ist von (gesellschaftlich entwickelten) Motiven geprägt und wird als Tätigkeit bezeichnet. Giest & Lompscher (2006, S. 27) formulieren: »Er [der Mensch] erschafft damit seine Kultur und zugleich die psychischen Funktionen, die ihn dazu in die Lage versetzen.« Dieses Paradoxon, dass die Tätigkeit ihre eigene Voraussetzung ist, kann aufgelöst werden, indem man zunächst kultur-historisch die gemeinschaftliche und erst dann die individuelle Tätigkeit betrachtet: »Durch (gemeinsame) Tätigkeit erfolgte die (kulturelle) Menschwerdung und über ihre individuelle Aneignung verläuft die Persönlichkeitsentwicklung« (Giest & Lompscher, 2006, S. 27).

Für schulische Prozesse von besonderem Interesse ist die Lerntätigkeit, in der Definition nach Giest & Lompscher (2006, S. 67):

Definition 8.1 (Lerntätigkeit) Lerntätigkeit kann man definieren als die speziell auf die Aneignung gesellschaftlichen Wissens und Könnens (Lerngegenstände) gerichtete Tätigkeit, wozu spezifische Mittel (Lernmittel) unter speziell gestalteten Bedingungen eingesetzt werden müssen.

Giest & Lompscher (2006, S. 67) führen fort: »Da die Lerngegenstände und Lernmittel kultureller Natur sind, kann Lerntätigkeit auch nur im Rahmen der Kultur, der Kooperation und Kommunikation mit denen, die über diese Kultur verfügen, angeeignet werden.« Dies betont in der Unterrichtsrealität u. a. die besondere Bedeutung und Verantwortung der Lehrkraft als wissende Person, die den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler steuert. Dies heißt nicht, dass Unterricht lehrerzentriert gestaltet werden soll, ganz im Gegenteil: Entscheidend ist, dass die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler dazu befähigt, sich den Lerngegenstand anzueignen, etwa indem sie geeignete Lernmittel zur Verfügung stellt und den Umgang mit ihnen schult.

Auch unabhänging vom Lernen sind Tätigkeiten stets auf einen Gegenstand bezogen, können also niemals inhaltsleer erfolgen. Tätigkeiten basieren dabei auf Motiven, d. h. »innere Antriebe« (Giest & Lompscher, 2006, S. 39). Im Kontext des Lernens sind dies insbesondere die Motive Interesse, Leistung, Affiliation (soziale Nähe) und Neugierde (Mienert & Pitcher, 2011, S. 57). In der Konfrontation mit einem Gegenstand bildet das Individuum, basierend auf die Motive, Ziele als »ideell vorweggenommene Resultate der Tätigkeit« aus (Giest & Lompscher, 2006, S. 39), was zu Handlungen im Zusammenhang mit dem Gegenstand führt. Handlungen dienen also der (zielgerichteten) Realisierung der Tätigkeit. Im Rahmen der Lerntätigkeit führt dies dann zu Lernhandlungen. Lompscher (1985, S. 46) definiert:

Definition 8.2 (Lernhandlung) Lernhandlungen sind relativ geschlossene und abgrenzbare, zeitlich und logisch strukturierte Abschnitte im Verlauf der Lerntätigkeit, die ein konkretes Lernziel realisieren, durch bestimmte Lernmotive angetrieben werden und entsprechend den konkreten Lernbedingungen durch den Einsatz äußerer und verinnerlichter Lernmittel in einer jeweils spezifischen Folge von Teilhandlungen vollzogen werden.

Aufbauend auf Lernziele können nun Lernhandlungen ausgebildet (also ausgeführt und verinnerlicht) werden. So können etwa als Elementare Aneignungshandlungen das Identifizieren und Realisieren genannt werden. Idenzifizieren ist die Prüfung der Passung eines gegebenen Objekt zur einer vorgegebenen Objektklasse und Realisieren das Erzeugen eines entsprechenden Repräsentanten. Identifizierungs- und Realisierungshandlungen sind v. a. bei der Erstbegegnung mit einem neuen Lerngegenstand – insbesondere bei Begriffen – von hoher Relevanz. Sie sind, in verinnerlichter Form, Voraussetzung für die noch folgenden Handlungsarten (und damit letztlich auch Bestandteile von ihnen). Darauf aufbauend können Grundhandlungen (Erkennen, Beschreiben, Verknüpfen, Anwenden22 und Begründen) sowie komplexe Handlungen (Suchen, Planen, Ausführen und Kontrollieren) erfolgen. Diese Handlungen sind i. d. R. in Festigungs- und Vertiefungsphasen bzw. bei Modellierungs- und Problemlösesituationen von Relevanz. Diese Art der Handlungskategorisierung geht auf Bruder & Brückner (1989) zurück und wird nahezu unverändert auch bei Feldt-Caesar (2017, 87 ff.) dargestellt.

Am Beispiel des Winkelfeldes in Abschnitt 1.3.3 lautete eine Aufgabe für die Schülerinnen und Schüler: »Wo muss das Schaf lang laufen, damit es die gesamte Zeit gerade so von der Kuh gesehen wird?« Hierfür bewegen die Schülerinnen und Schüler in der App das Schaf entlang der Sichtfeldgrenze der Kuh, geradlinig und in Richtung der Augen der Kuh begrenzt und in die andere Richtung unbegrenzt. Sie identifizieren und realisieren damit das mathematische Objekt Strahl, gebunden am Kontext der Sichtfelder. Im Anschluss wird diese Handlung (kontextunabhängig) verallgemeinert und die Strahl-Eigenschaft des Schenkels charakterisiert.

Lernhandlung in der App Winkel-Farm (Etzold, 2019a)

Abb. 8.1: Lernhandlung in der App Winkel-Farm (Etzold, 2019a)

Welche Schritte für die Ausbildung von Lernhandlungen notwendig sind, , wird in Abschnitt 8.3 dargestellt. Zu betonen ist, dass die Lernhandlungen zwar einerseits notwendig sind, um sich einem Lerngegenstand zu nähern, also die Handlungen als Lernmittel aufgefasst werden können. Andererseits müssen die Lernhandlungen jedoch auch erst einmal ausgeprägt werden, also auch die Handlungen als Lerngegenstand selbst aufgefasst werden (was wiederum nur am konkreten mathematischen Unterrichtsthema realisiert werden kann). Diese Sichtweise sollte Sie als Lehrkraft dafür sensibilisieren, dass Sie nicht per se davon ausgehen können, dass Ihre Schülerinnen und Schüler über entsprechende Handlungen verfügen, um neue mathematische Themen zu erlernen, sondern an diesen Themen die Handlungen erarbeitet und mit den Handlungen die Mathematik erarbeitet wird. Auch hier kann wieder von der zunächst gemeinschaftlichen Handlungsausführung (in der Klassensituation und mit Unterstützung von Personen, die über das anzueignende Wissen verfügen) zur individuellen Handlungsausführung (und damit persönlichen Aneignung des Lerngegenstands) übergegangen werden.

8.2 Motivierung und Zielbildung

Die obigen Überlegungen zeigen, dass die Motivierung und Zielbildung bedeutsame Bestandteile eines Lernprozesses sind, sich also in der Gestaltung konkreter Unterrichtssituationen widerspiegeln müssen – durch entsprechende Phasen innerhalb einer Unterrichtsstunde. Erst wenn Motive und Ziele ausgeprägt sind, kann es in weiteren Unterrichtsphasen zur Ausbildung der Lernhandlungen kommen (siehe auch Abbildung 8.4).

8.2.1 Zone der nächsten Entwicklung

Die Schülerinnen und Schüler müssen zunächst in die Lage versetzt werden, sich mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen zu wollen. Hierzu ist es hilfreich, die Anforderungssituation in der Zone der nächsten Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu präsentieren. Dabei handelt es sich um eine Problemsituation, Aufgabe oder Fragestellung, die die Schülerinnen und Schüler zwar mithilfe ihrer bisherigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten verstehen und nachvollziehen können, zu ihrer Lösung sie jedoch noch nicht selbstständig (aber mit Unterstützung wissender Personen) in der Lage sind. Somit wird eine Motivation geschaffen, sich mit der Thematik tiefer auseinanderzusetzen. Es ist durchaus möglich, an dieser Stelle auch schon erste Lösungsversuche zu unternehmen. Daran ist besonders gut zu erkennen, »was wir nicht wissen bzw. können, um die Anforderung zu bewältigen« (Lompscher, 1996, S. 4).

Dem kann die Zone der aktuellen Leistung gegenübergestellt werden, also Probleme bzw. Aufgabe, die die Schülerinnen und Schüler bereits selbstständig lösen können. Würde jedoch jede Anforderungssituation in der Zone der aktuellen Leistung liegen, wäre langfristig kein Lernzuwachs möglich (und insbesondere könnte sich keine Motivation zum Lernen einstellen).

Ein bestimmtes Niveau eines Individuums ist dadurch gekennzeichnet, dass es zu bestimmten Dingen selbstständig in der Lage ist, zu anderen jedoch noch nicht. Der Übergang zum nächst höheren Niveau erfolgt, indem die soeben noch nicht selbstständig lösbaren Problemstellungen (in der Zone der nächsten Entwicklung) zu selbstständig lösbaren Problemstellungen (in der Zone der aktuellen Leistung) werden. Ein solcher Niveauübergang erfolgt Lompscher (1985, S. 26) zufolge durch »pädagogische Führung«. Diese etwas sperrige Bezeichnung drückt jedoch nichts anderes aus, als dass die Lehrkraft für die Gestaltung des Lernprozesses verantwortlich ist, damit die Schülerinnen und Schüler den entsprechenden Niveauübergang vollführen können.

Zone der nächsten Entwicklung (nach Lompscher, 1985, S. 26)

Abb. 8.2: Zone der nächsten Entwicklung (nach Lompscher, 1985, S. 26)

Beim Winkelfeld wurden den Schülerinnen und Schülern Fotos verschiedener Tiere präsentiert, die teils ihre Augen an der Seite des Kopfes und teils nach vorn gerichtet hatten. Es wurde besprochen, was diese Tiere unterscheidet (Flucht- und Jagdtiere) und welche Bedeutung die Lage der Augen hierfür haben kann. Diese Situation ist für die Schülerinnen und Schüler nachvollziehbar, aber sie können noch nicht selbstständig beschreiben, welcher geometrische Zusammenhang zwischen der Position der Augen und der Lebensweise der Tiere besteht.

8.2.2 Lernzielbildung

Aus dem Motiv heraus, sich mit einem konkreten Lerngegenstand zu beschäftigen, erfolgt eine geistige Vorwegnahne, was das Ergebnis der Lerntätigkeit ist. Darunter sind neue »Handlungen, Verhaltensweisen, Bedeutungen, Werte, Normen, Begriffe, Gesetzmäßigkeiten usw. in Form von Kenntnissen, Fähigkeiten, Einstellungen und anderen psychischen Eigenschaften« zu verstehen (Lompscher, 1985, S. 40). Solche (psychischen) Ergebnisse unterscheiden sich damit von (äußeren) Produkten wie »Zeichnungen, schriftliche Arbeiten, Materialsammlungen, Werkstücke, mündliche Aussagen u. a.« (Lompscher, 1985, S. 40).

Die Orientierung darauf, eines der Ergebnisse zu erzielen, entspricht demnach dem Lernziel. Hier ist zu beachten, dass das Lernziel nicht zu verwechseln ist mit dem von der Lehrkraft erwünschten Lehrziel.23 Lernziele werden individuell von den Schülerinnen und Schülern ausgeprägt. Sie haben jedoch als Lehrkraft die Aufgabe, eine solche Lernzielbildung zu unterstützen und idealerweise auch zu lenken, so dass die Schülerinnen und Schüler für den Lerngegenstand adäquate Lernziele bilden. Der Grad der Bewusstheit, Allgemeinheit und Differenziertheit des Lernziels bestimmt dabei letztlich auch, in welcher Qualität die darauf basierenden Lernhandlungen ausgeprägt werden (vgl. Lompscher, 1985, S. 43). Möchte ein Kind einfach nur die Lösung der Aufgabe \(17+8\) ermitteln (Produktorientierung), so wird es nicht so qualitativ hochwertig und nachhaltig lernen können, als wenn es das Ziel verfolgt, grundsätzlich Additionsaufgaben mit Zehnerübergang lösen zu können (Ergebnisorientierung).

Es bietet sich eine explizite Verbalisierung und auch das Festhalten von Lernzielen (z. B. an der Tafel) an, um während des Lernprozesses darauf zurückgreifen und seinen eigenen Handlungsfortschritt permanent mit den Zielen abgleichen zu können (vgl. Handlungskontrolle in Abschnitt 8.3.3).

Anknüpfend an die Präsentation der Tierbilder zu Winkelfeldern wurde, von der Lehrkraft durch ein Lehrer-Schüler-Gespräch initiiert, als Lernziel formuliert: »Wir wollen Sichfelder von Tieren beschreiben und miteinander vergleichen« (vgl. Etzold, 2019b, S. 6). Diese Zielformulierung enthält bewusst keine mathematischen Fachbegriffe des neuen Lerngegenstandes, da diese zum entsprechenden Zeitpunkt ja noch gar nicht erarbeitet worden sind.

Wie das Beispiel schon zeigt, müssen Motivierung und Zielbildung nicht als getrennte Unterrichtsphasen strukturiert werden. Relevant ist jedoch, dass sie stattfinden und einen bedeutsamen Raum im Unterricht einnehmen. Ein Unterrichtsbeginn mit »Wir beschäftigen uns heute mit …« liefert eben i. d. R. keine Motivation und löst in den Schülerinnen und Schülern keine Lernzielbildung aus, was für den weiteren Lernprozess extrem hinderlich ist. Auch zeigt sich hier wieder die Bedeutung der Lehrkaft: Sie ist diejenige, die die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen kann, sich dem Lerngegenstand zu nähern. Das heißt insbesondere auch, dass ein Ostereiersuchen vermieden werden muss (bei dem die Schülerinnen und Schüler z. B. so lange raten, um was es denn heute gehen könnte, bis sie die richtige Antwort gefunden haben), sondern die Lehrkraft instruiert (persönlich oder durch geeignete Aufgabenstellungen) unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einen ersten Zugang zum Lerngegenstand. Damit ist die Lehrkraft ein Vertreter des gesellschaftlichen Wissens und Könnens, das sich die Schülerinnen und Schüler als Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen werden.

8.3 Lernhandlungen ausbilden

Nach der Motivierung und Zielbildung folgt nun die (wie auch immer geartete) Erarbeitung des neuen Lerngegenstands. Spezifische Möglichkeiten hierfür sind in Kapitel 9 zu Begriffen, Sachverhalten und Verfahren dargestellt. Eine solche Erarbeitung ist jedoch erst die Ausgangslage für die individuelle Aneignung des Lerngegenstands durch die Schülerinnen und Schüler. Diese erfolgt dann in der Regel über das Bearbeiten von Aufgaben, die den Schülerinnen und Schülern gestellt werden (oder die sie sich selbst stellen). Hiermit sind nicht einseitig Übungsaufgaben gemeint, sondern jegliche Art der Aufforderung, (spezifische) Lernhandlungen auszuführen.

Lernhandlungen können dabei in einen Orientierungs-, einen Ausführungs- und einen Kontrollteil eingeteilt werden, wobei der Kontrollteil auch begleitend wirksam werden kann.

8.3.1 Orientierungsgrundlagen

Mit der Erfassung einer Aufgabe geht ad hoc eine Orientierung der Schülerinnen und Schüler bezüglich der möglichen Aufgabenbearbeitung einher. Dabei wird in drei Qualitäten von Orientierungsgrundlagen unterschieden (als Zitate gekennzeichnete Formulierungen sind entnommen aus Feldt-Caesar, 2017, 83 ff.):

  • Probierorientierung: Die Schülerinnen und Schüler verfügen noch nicht über für die Aufgabenbewältigung nötigen Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten. Stattdessen gehen sie nach Versuch und Irrtum vor. Dabei fehlt ihnen »häufig die Einsicht, warum eine bestimmte Handlung zum Erfolg geführt hat, eine andere jedoch nicht. […] Aufgrund der mangelnden Einsicht in die wirklichen Bedingungen der Handlungen ist eine erfolgreiche Handlung nicht notwendigerweise reproduzierbar.« Dies führt dazu, dass erfolgreiche Handlungen kaum auf veränderte Situationen übertragen werden können. Eine derartige Orientierung ist also höchstens »in Aneignungsprozessen zu einem Explorieren des neuen Inhaltsbereichs« wünschenswert, darüber hinaus jedoch sollten höhere Orientierungsgrundlagen angestrebt werden.

  • Musterorientierung: Die Schülerinnen und Schüler gehen nun nicht mehr nach Versuch und Irrtum vor, sondern orientieren sich an bereits erfolgreich durchgeführten Handlungen in ähnlichen Anforderungssituationen – die sozusagen als Muster dienen. »Dieser Orientierungstyp ist nur dann erfolgreich, wenn die gegebene Anforderungssituation dem erlernten Muster ähnlich genug ist, um eine Passung zu ermöglichen. Tragfähig ist ein Muster nur dann, wenn seine Handlungsbedingungen genau gekannt und stets geprüft werden.« Es handelt sich also zwar um eine vollständige Orientierungsgrundlage, jedoch ist eine Transferierbarkeit nicht immer gegeben. Auch kann die »fälschliche Erkennung eines Musters in einer gegebenen Anforderungssituation« zu einer fehlerhaften Übertragung führen.

  • Feldorientierung: Die Schülerinnen und Schüler sind nun »nicht an eine konkrete Anforderungssituation gebunden, sondern beziehen sich vielmehr auf ganze Anforderungsklassen. Durch das Erkennen der Passung einer solchen Anforderungsklasse kann sich der Lernende für konkrete Situationen selbst eine Orientierung schaffen. Er verfügt über einen gewissen Überblick über die Situation und ist in der Lage zu differenzieren, welche Stoffelemente und welche seiner Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten ihm bei der Bewältigung der Anforderung weiterhelfen können und welche nicht.« Aufgrund des hohen Maßes an Übertragbarkeit ist eine Feldorientierung insbesondere für Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in den Bereich von Mindeststandards fallen, von Bedeutung: »Feldorientierung gilt als erstrebenswert für solche Lerninhalte, die für erfolgreiches Weiterlernen unabdingbar sind.« (Richter & Bruder, 2016, S. 195)

Auch wenn eine Feldorientierung erstrebenswert ist, wird diese vermutlich nicht immer von allen Schülerinnen und Schülern erreicht werden können. Diesen Schülerinnen und Schülern sollten Sie jedoch dahingehend Unterstützung bieten, zumindest eine Musterorientierung zu erlangen. Hierzu gehört auch, das Erfüllen eines Musters explizit zu machen, also bei gegebenen Aufgabenstellungen zu untersuchen, inwieweit diese einem bereits bekannten Muster entsprechen und wie sie damit lösbar sind. Ebenfalls hilfreich, und auch den Übergang zur Feldorientierung stützend, sind Orientierungshilfen. Diese sollten gemeinsam aus der ersten Beschäftigung mit dem Lerngegenstand herausgearbeitet und in den Umgang mit ihnen eingeführt werden, damit sie sinnvoll in den Lernprozess integriert werden können.

Beispiele für Orientierungshilfen bei der Aneignung von Begriffen, Sachverhalten und Verfahren finden sich in Kapitel 9. Auch die nach Definition 5.1 eingeführten Arbeitsmittel können die Funktion einer Orientierungshilfe erfüllen, da sie nach Definition sogleich abstrakt wie anschaulich (in der dort verwendeten Charakterisierung) sind.

Die App Winkel-Farm unterstützt als Arbeitsmittel die Aneignung des Begriffs »Schenkel« eines Winkel mit dessen Strahl-Eigenschaft, indem sich die Bestandteile des Winkelfeldes ein- und ausblenden lassen sowie vom Tiermodus in den Winkelfeldmodus gewechselt werden kann und damit das Wesen des Begriffs hervorgehoben werden kann.

8.3.2 Ausführen und Verinnerlichen

Am neu zu erlernenden Lerngegenstand werden die Schülerinnen und Schüler nun an die Ausführung geeigneter Lernhandlungen herangeführt, was bspw. über ein Vorführen und Erklären durch die Lehrkraft erfolgen kann. Die Ausführung durch die Schülerinnen und Schüler darf jedoch nicht mit einem Nachahmen verwechselt werden. Vielmehr erfolgen die Handlungen einsichtig und das Lernziel verfolgend, ggf. unter Verwendung der Orientierungshilfen. Je nach Vorkenntnissen können die Schülerinnen und Schüler auch, angeregt durch entsprechende Aufgabenstellungen, selbstständig die neuen Lernhandlungen durchführen, wobei nicht davon auszugehen ist, dass sie bereits über alle Voraussetzungen verfügen, die Lernhandlungen vollumfänglich zu nutzen (denn sonst wäre die zugehörige Anforderungssituation nicht in der Zone der nächsten Entwicklung gewesen).

Um die Lernhandlungen zu verinnerlichen (genauer: um sie anzueignen, was stets als Einheit aus Entäußerung und Verinnerlichung anzusehen ist – vgl. Abschnitt 5.1) schlägt Gal’perin eine »etappenweise Interiorisierung« vor (vgl. Lompscher, 1983, 66 f.):

  • Etappe der materiellen bzw. materialisierten Handlung: Die Handlungen werden mit konkretem Material (z. B. Arbeitsmitteln) oder anderen schriftlich vorliegenden Orientierungshilfen zum Lerngegenstand durchgeführt.

  • Etappe der sprachlichen Handlung: Die Handlungen werden ohne oder nur mit geringer Zuhilfenahme des Materials durchgeführt und dabei durch äußeres (oder inneres) Sprechen beschrieben. Dabei wird i. d. R. Bezug auf die vorherigen Handlungen genommen.

  • Etappe der geistigen Handlung: Die Handlungen werden nun rein kognitiv durchgeführt und bedürfen weder des Materials noch der Sprache.

Diese Etappen führen letztlich dazu, die Lernhandlungen (und damit auch den Lerngegenstand, an dem diese Handlungen durchgeführt werden) psychisch abbilden zu können, was zur »Verallgemeinerung, Verkürzung und Beherrschung« der Handlungen führt (Steinhöfel et al., 1988, S. 19). Abbildung 8.3 zeigt hierzu einige Realisierungsmöglichkeiten für den Mathematikunterricht.

Beispiele zur etappenweisen Verinnerlichung von Handlungen im Mathematikunterricht nach Steinhöfel et al. (1988, S. 19)

Abb. 8.3: Beispiele zur etappenweisen Verinnerlichung von Handlungen im Mathematikunterricht nach Steinhöfel et al. (1988, S. 19)

8.3.3 Handlungskontrolle

Die Handlungsausführung sollte stets von einer Handlungskontrolle begleitet werden. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler eine bewusste Beziehung herstellen zwischen ihren (erreichten oder zu erreichenden) Handlungsergebnissen, den eingesetzten Lernmitteln sowie deren Bedingungen und der eigenen Handlungsausführung. Die Handlungskontrolle ist dabei eine Selbstkontrolle und muss dementsprechend auch erst einmal ausgebildet werden. Folgende methodischen Maßnahmen scheinen hierfür hilfreich zu sein:

  • Ein Abgleich mit den zu erreichenden Handlungsergebnissen ist nur möglich, wenn im Vorfeld eine Zielklarheit besteht. Daher ist es so wichtig, die Lernziele explizit zu formulieren und auch festzuhalten.

  • Durch das Anfertigen eines Lernprotokolls (vgl. Bruder, 2001) erhalten die Schülerinnen und Schüler eine Möglichkeit, ihre eigenen Lernhandlungen und -ergebnisse zu dokumentieren und nachzuvollziehen. Insbesondere kann in diesem auch ohne jeglichen Bewertungsdruck dargestellt werden, wo man selbst als Schülerin oder Schüler noch Lücken sieht bzw. was man noch nicht verstanden hat.

  • Als weitere effektive Maßnahme in der Ausbildung der Handlungskontrolle hat sich die gegenseitige Kontrolle der Schülerinnen und Schüler als hilfreich herausgestellt. »Es läßt sich zunächst beim Partner leichter feststellen als bei sich selbst, inwieweit ein Handlungsergebnis bestimmten Zielkriterien entspricht, die Handlungsausführung anforderungs- und regelgerecht erfolgt, wo Abweichungen und Fehler liegen und worin die Ursachen dafür bestehen können« (Lompscher, 1983, S. 72). Durch Verinnerlichung dieses Vorgehens kann dann schrittweise auch eine Selbstkontrolle erfolgen.

Die Handlungskontrolle leistet damit einen Beitrag, die Schülerinnen und Schüler langfristig zu einer Feldorientierung über den Lerngegenstand zu befähigen.

8.4 Bezüge zur Stoffdidaktik

Im Folgenden wird dargestellt, wie die in diesem Kapitel dargestellten Prozessschritte bei der Ausbildung von Lernhandlungen mit den in den letzen Kapiteln eingeführten Theorieelementen einer stoffdidaktischen Analyse verknüpft werden können. Dabei wird das Ziel verfolgt, dass Sie Möglichkeiten kennenlernen, die Erkenntnisse einer zu einem Lerngegenstand durchgeführten stoffdidaktischen Analyse in die Gestaltung von Lernprozessen einfließen zu lassen.

  • Der Lerngegenstand selbst als Ausschnitt des gesellschaftlichen Wissens und Könnens entspricht einem der Mathematik entstammenden Begriff, Sachverhalt oder Verfahren bzw. einem Ausschnitt metamathematischen Wissens. Er hat daher eine gesellschaftliche und historische Bedeutung, die es im Unterricht zu transportieren gilt.

  • Für die Motivierung und Zielbildung sollte ein sinnstiftender Kontext herangezogen werden, der in besonderer Weise charakteristisch für den zu erlernenden Lerngegenstand ist. Die Kernidee in der Vorschauperspektive unterstützt bei der Zielbildung, um das Wesen des neuen Lerngegenstands im Vorfeld deutlich machen zu können und die erwünschten Handlungsergebnisse im Blick zu haben. Es ist durchaus möglich, dass die explizite Lernzielformulierung in Form der Kernfragen erfolgt. Auch das Explizitmachen fundamentaler Ideen kann die Einordnung des neuen Lerngegenstands unterstützen.24

  • Die etappenweise Verinnerlichung von Handlungen kann dabei unterstützen, Grundvorstellungen aufzubauen. Das in Abb. 5.2 dargestellte Phasenmodell von Wartha & Schulz (2011, S. 11) erinnert stark an die etappenweise Verinnerlichung von Lernhandlungen nach Gal’perin. Dabei verwendete Arbeitsmittel und Repräsentationen können als Orientierungshilfe dienen und unterstützen die Aneignung.

  • In der Handlungskontrolle wird über den Abgleich zwischen Handlungszielen, -durchführung und -ergebnissen die Kernidee in der Rückschauperspektive aufgegriffen.

Für die Unterrichtgestaltung wurde bisher verschwiegen, dass die Lernhandlungen selbstverständlich auf Vorkenntnisse und -fertigkeiten aufbauen und dieser bedürfen. Es ist daher unerlässlich, das für die neu zu erwerbenden Lernhandlungen benötigte Ausgangsniveau zu sichern (was dann die Zone der aktuellen Leistung charakterisiert). Dies kann in Wiederholungsphasen zum aktuell benötigten Stoff erfolgen, dauerhaft und langfristig auch in (unbenoteten) täglichen Übungen / vermischten Kopfübungen zum »Wachhalten von Basiswissen« (siehe auch Bruder, 2008).

Insgesamt ergeben sich aus den Überlegungen typische Phasen einer Unterrichtsstunde. Abbildung 8.4 zeigt diese in Anlehnung an Bruder (1991) mit ihrem Zusammenhang zu den stoffdidaktichen Theoriebestandteilen.

Typische Unterrichtsphasen nach Bruder (1991)

Abb. 8.4: Typische Unterrichtsphasen nach Bruder (1991)

All diese Überlegungen sind jedoch nicht als starres Unterrichtsvorgehen aufzufassen, sondern sollen vielmehr Ihnen als Lehrkraft wiederum eine Orientierung bieten, Ihren Unterricht zu strukturieren und entsprechende Lernumgebungen zu gestalten.

8.5 Zum Nachbereiten

Lösen sie folgende Aufgaben am Beispiel des Lerngegenstands Vierecksarten.

  1. Formulieren Sie eine Anforderungssituation in der Zone der nächsten Entwicklung und stellen Sie dar, inwieweit diese zwar verstanden und nachvollzogen, aber noch nicht selbstständig gelöst werden kann.

  2. Geben Sie mögliche Lernziele für den Lerngegenstand an.

  3. Entwerfen Sie eine Orientierungshilfe zum Identifizieren von Vierecksarten.

References

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Bruder, R. (2008). Üben mit Konzept. mathematik lehren, 147, 4–11.
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  1. Um hier einer ggf. eingeschränkten Auffassung des Vorgehens bei Sach- oder Modellierungsaufgaben (»Anwenden auf die Realität«) vorzubeugen, sei auf die Beschreibung verwiesen: »Feststellen der Übereinstimmung von den Bedingungen der Aufgabenstellung mit der Ausgangskonstellation der zu realisierenden gegebenen (oder erzeugten) Handlungsvorschrift (Identifizieren) und ggf. Herstellen einer solchen Übereinstimmung (Transferieren)« (Feldt-Caesar, 2017, S. 93)↩︎

  2. Erst recht nicht zu verwechseln ist der Begriff mit den »Lernzielen« außerhalb der Tätigkeitstheorie, die bspw. bei einer Unterrichtsplanung angegeben werden. Letztere entsprechen eher den Lehrzielen und können auch – um Verwechslungen zu vermeiden – als Kompetenzziele bezeichnet werden, da sie Kompetenzen beschreiben, die am Ende der entsprechenden Unterrichtsstunde ausgebildet worden sein sollen.↩︎

  3. Dies ist eine Adaption eines bei Reitz-Koncebovski et al. (2018, S. 182) dargestellten Gestaltprinzips fachwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen in der Lehramtsausbildung.↩︎