10 Leitidee Zahl und Operation

Material

  • Folien zur Vorlesung zur Leitidee Zahl und Operation (pdf, Keynote)

Literaturempfehlungen

  • Padberg & Benz (2021): Didaktik der Arithmetik: fundiert, vielseitig, praxisnah
  • Padberg & Wartha (2017): Didaktik der Bruchrechnung
  • Schulz & Wartha (2021): Zahlen und Operationen am Übergang Primar-/Sekundarstufe

10.1 Strukturierung der Leitidee

Die Strukturierung mathematischer Inhalte in Leitideen ist seit Anfang der 2000er Jahre im deutschen Bildungswesen etabliert, als die KMK23 Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss (2004), den Primarbereich (2005) und später auch die Allgemeine Hochschulreife (2012) herausgebracht hat (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2004, 2005, 2012). Darauf aufbauend wurden in den meisten Bundesländern die Lehrpläne angepasst, in Brandenburg für die Jahrgangsstufen 1 – 10 und die Gymnasiale Oberstufe (Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, 2015b, 2018). Zwischenzeitlich wurden die Bildungsstandards für den Primarbereich sowie den Ersten und Mittleren Schulabschluss überarbeitet (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2022b, 2022a). So haben sich für die Leitideen teils verschiedene Bezeichnungen ergeben, was am Anfang dieses und der folgenden Kapitel jeweils in einer Tabelle zusammengefasst werden soll. Die in den Überschriften gewählten Bezeichnungen orientieren sich an den aktuellen Bildungsstandards des Ersten und Mittleren Schulabschlusses (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2022a).

Tab. 10.1: Bezeichnungen der Leitidee Zahl und Operation
Dokument Bezeichnung der Leitidee
Bildungsstandards Primarbereich (2005) Zahlen und Operationen
Bildungsstandards Primarbereich (2022) Zahl und Operation
Bildungsstandards Mittlerer Schulabschluss (2004) Zahl
Bildungsstandards Erster und Mittlerer Schulabschluss (2022) Zahl und Operation
Rahmenlehrplan Brandenburg, Jahrgangsstufen 1 – 10 Zahlen und Operationen
Bildungsstandards Allgemeine Hochschulreife (2012) Algorithmus und Zahl
Rahmenlehrplan Brandenburg, Gymnasiale Oberstufe Algorithmus und Zahl

Das LISUM (2021) hat für die Leitidee Zahl und Operation für die Jahrgangsstufen 1 – 10 ein Konzeptbild herausgegeben (siehe Abbildung 10.1), ergänzt durch einen didaktischen Kommentar von Schulz (o. J.) und Materialien zur Diagnose und Förderung (LISUM, o. J.-g).

Konzeptbild zur Leitidee Zahlen und Operationen (LISUM, 2021)

Abb. 10.1: Konzeptbild zur Leitidee Zahlen und Operationen (LISUM, 2021)

Aus diesen Materialien sowie den Beschreibungen in den Bildungsstandards für die Sekundarstufen (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2012, 18; 2022a, 15 f.) lassen sich einige bedeutsame Lerngegenstände ableiten:

Bedeutsame Lerngegenstände

  • Zahlbereiche und Zahlbereichserweiterungen
  • Vorstellungen reeller Zahlen (z. B. Vollständigkeit der Zahlengerade),
  • Operationen rationaler Zahlen (z. B. schrittweise, halbschriftliche Verfahren)
  • Faktorisierung von Zahlen
  • Darstellungen von Zahlen
  • Rechnen mit natürlichen, ganzen und rationalen Zahlen
  • Zahlbereichserweiterungen
  • Brüche
  • Rechengesetze
  • Überschlagsrechnen, Runden, Prüfen und Interpretieren von Ergebnissen
  • Rechenoperationen und deren Umkehrungen
  • Prozentrechnung
  • Zinsrechnung
  • Potenzen
  • Wurzeln
  • Algorithmische Verfahren (z. B. schriftliche Rechenoperationen, Bestimmung von Quadratwurzeln, Intervallschachtelung, lineare Gleichungssysteme)
  • Kombinatorik
  • Zahlenfolgen
  • Gleichungen
  • Gleichungssysteme
  • Grenzwerte
  • Tupel und Matrizen
  • Grenzmatrizen und Fixvektoren

Ausführlich am Beispiel des Wurzelbegriffs und überblicksartig am Beispiel der Kombinatorik werden im Folgenden einige stoffdidaktische Überlegungen angestellt – insbesondere hinsichtlich der Nutzung geeigneter Repräsentationen.

10.2 Wurzeln

10.2.1 Begriffsverständnis

In diesem Abschnitt werden Begriffsinhalt, Begriffsumfang und Begriffsnetz sowie verschiedene Stufen des Begriffsverständnisses zum Wurzelbegriff diskutiert24.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Wurzel bzw. das Wurzelziehen die Umkehrung des Quadrierens im Bereich der nichtnegativen Zahlen ist. Diese Nichtnegativität ist übrigens im Unterricht besonders herauszuarbeiten. Während \((-3)^2 = 9\) und \(3^2= 9\) ist, also die Gleichung \(x^2 = 9\) zwei Lösungen in den reellen Zahlen hat, ist \(\sqrt{9} = 3\) eindeutig festgelegt. Man kann also nicht pauschal von der Wurzel als die Umkehrung des Quadrates sprechen.25 Weiterhin gehört zum Begriffsinhalt die Eigenschaft, dass Wurzeln nicht immer rational sein müssen, auch wenn die Zahl, aus der die Wurzel gezogen wird, rational ist (z. B. bei \(\sqrt{2}\)). Der Wert einer Wurzel lässt sich jedoch mittels rationaler Zahlen annähern26. Das Vorgehen zum Finden einer Annäherung kann durchaus auch als Bestandteil des Begriffsinhalts aufgefasst werden.

Wurzeln können demnach alle nichtnegativen reellen Zahlen sein, da für jede (rationale oder reelle) Zahl \(a\geq 0\) eine reelle Zahl \(x\geq 0\) gefunden werden kann, für die \(x^2 = a\) gilt. Dieser Begriffsumfang kann sich jedoch erst schrittweise entwickeln, da mit der Einführung des Wurzelbegriffs in der Regel noch nicht die reellen Zahlen bekannt sind. Die Menge aller Wurzeln rationaler Zahlen besteht zwar aus nichtnegativen reellen Zahlen – aber noch nicht aus allen (denn z. B. \(\sqrt{\pi}\) existiert ja auch). Ein vollständiger Begriffsumfang des Wurzelbegriffs ist also erst dann ausgeprägt, wenn die reellen Zahlen eingeführt wurden.

Eng verbunden ist der Wurzelbegriff mit dem des Quadrates (sowohl algebraisch als auch geometrisch) und den reellen Zahlen (als Lückenfüller der rationalen Achse). Auch das Wurzelziehen bzw. Radizieren27 als verwandte Arbeitsbegriffe gehören zum engen Begriffsnetz. Bei der Betrachtung der Gleichung \(x^2 = a\) sind auch Basis und Exponent sowie der Radikant, v. a. in der Schreibweise \(\sqrt{a} = x\), Bestandteile des Begriffsnetzes. Der Wurzelexponent wird dann v. a. bei höheren Exponenten von Bedeutung, wenn er in der Schreibweise \(\sqrt[n]{a}\) auftritt. Ob die Intervallschachtelung als Fachbegriff im Zusammenhang mit dem Wurzelziehen auftauchen muss, sollte abhängig von der Lerngruppe entschieden werden – bekommt damit aber eine besondere Bedeutung als Begriff eines Verfahrens.

Hinsichtlich des Wurzelbegriffs liegt ein intuitive Begriffsverständnis vor, wenn die Schülerinnen und Schüler Wurzeln als Seitenlängen zu Quadraten mit vorgegebenen Flächeninhalten auffassen oder dies in einer algebraischen Sichtweise nachvollziehen. Zum inhaltlichen Begriffsverständnis gehört darauf aufbauend hinzu, dass es sich stets um nichtnegative Werte handeln muss. Ein integriertes Begriffsverständnis liegt vor, wenn die Monotonie und nicht-Linearität erkannt ist, also bspw. die näherungsweise Bestimmung einer Wurzel möglich ist. Auch der begriffliche Zusammenhang zu Quadrat, Basis und Exponent kann auf dieser Stufe von den Schülerinnen und Schülern hergestellt werden. Bestandteil der Stufe ist (später) ebenfalls die Verknüpfung zu höheren Potenzen und deren \(n\)-te Wurzeln. Das formale Begriffsverständnis geht einher mit der Kenntnis und Anwendbarkeit der Definition der Wurzel, hier insbesondere auch die Fähigkeit zu begründen, warum es keine negativen Wurzeln bzw. keine Wurzeln aus negativen Zahlen gibt.

10.2.2 Begriffseinführung

Angelehnt an die Mathewerkstatt für die Klassenstufe 9 (Barzel et al., 2016, 92 ff.) sowie die Überlegungen in den Kapiteln 6 und 7.1, bietet sich folgende Einführung des Wurzelbegriffs an:

  1. Es kann prinzipiell davon ausgegangen werden, dass den Schülerinnen und Schülern Quadrate bekannt sind und sie aus diesen Seitenlängen abmessen und den Flächeninhalt berechnen können. In Hinblick auf die Zone der nächsten Entwicklung sind sie noch nicht in der Lage, aus gegebenen Flächeninhalten die Seitenlänge eines Quadrates zu berechnen bzw. halbquantitive Zusammenhänge zu erzeugen (z. B. Wie ändert sich die Seitenlänge, wenn der Flächeninhalt halbiert wird?). Jedoch können sie diese Anforderungssituation mit ihrem bisherigen Wissen verstehen.

    Der (innermathematische) Kontext ist also das Bestimmen einer Seitenlänge eines Quadrates bei gegebenem Flächeninhalt. Dies kann u. a. dadurch konkretisiert werden, dass zu einem Quadrat dasjenige mit dem halben Flächeninhalt gesucht wird. Dies erhöht die Konxtauthentizität dahingehend, das es sich um ein historisch relevantes Problem handelt (vgl. Barzel et al., 2016, S. 94). Dabei ist es reichthaltig genug, auch von der Halbierung abzusehen und allgemeinere Zusammenhänge zu erkunden. Ein erster Lösungsversuch ist zum Beispiel über das Falten eines quadratischen Blatt Papiers möglich (indem alle vier Ecken auf den Mittelpunkt gefaltet werden). Durch einen Vergleich des ursprünglichen und des gefalteten Quadrates kann man erkennen, dass die Seitenlänge nicht einfach halbiert werden kann.

  2. Als Lernziel kann herausgearbeitet und formuliert werden: Wir wollen für ein Quadrat mit einem bestimmten Flächeninhalt die Seitenlänge bestimmen können. Dies ist allgemeiner formuliert als das Halbierungsproblem, aber eine solch allgemeine Formulierung ist durchaus sinnvoll, um das übergeordnete Ziel während des Lernprozesses stets vor Augen zu haben. Wichtig ist hierbei, dass auch das Ziel selbst von den Lernenden verstanden wird und sie jederzeit überprüfen können, inwieweit sie das Ziel schon erreicht haben.

  3. Bei der Überlegung, welche Lernhandlungen geeignet sind, sich dem Wurzelbegriff zu nähern, sollen diese aus den fachlich relevanten Zusammenhängen extrahiert und am gewählten Kontext konkretisiert werden:

    • Ein wesentlicher Zusammenhang ist, dass sich Seitenlänge und Flächeninhalt eines Quadrates nicht proportional zueinander verhalten, also eine doppelte Seitenlänge nicht zu einem doppelten Flächeninhalt führt. Dieser nicht-Zusammenhang gilt aber dann natürlich auch umkehrt: Der doppelte Flächeninhalt wird nicht durch eine doppelte Seitenlänge verursacht. Diese Perspektive ist wichtig, um zu erkennen, dass sich Wurzeln unbekannter Zahlen nicht so einfach linear aus Wurzeln bekannter Zahlen konstruieren lassen. Als konkrete Lernhandlung lässt sich die umsetzen, indem zu vorgegebenen Quadraten Seitenlängen und Flächeninhalte bestimmt werden müssen. Die Auswahl sollte derart erfolgen, dass sowohl vielfache Seitenlängen als auch vielfache Flächeninhalte auftreten, damit bei den jeweils anderen Größen erkannt wird, dass diese keine entsprechenden Vielfachen darstellen.

    • Trotz der nicht-Linearität ist die bestehende (strenge) Monotonie ein weiterer Zusammenhang zwischen Seitenlängen und Flächeninhalt. Dieser kann herausgearbeitet werden, indem (nach der vorherigen Erfahrung) Flächeninhalte und Seitenlängen von Quadraten gegeben werden und zwischen diesen eine Zuordnung erfolgen muss. Dies betont den qualitativen Zusammenhang – auch wenn ein konkretes Ausrechnen damit noch nicht möglich ist.

    • Der nächste Handlungsschritt ist nun das näherungsweise Bestimmen von Seitenlängen über das Intervallschachtelungsprinzip. Dieses baut in fachlicher Hinsicht auf die Monotonie auf und es sind nun immer Zahlenpaare \(a_1\) und \(a_2\) gesucht, für die \(a_1^2 \leq A \leq a_2^2\) für einen gegebenen Flächeninhalt \(A\) gilt. Über eine vorstrukturierte (und ggf. auch schon über Beispiele vorausgefüllte) Tabelle kann dieses Vorgehen unterstützt werden. Begleitet werden kann dieses Vorgehen natürlich auch über ein zeichnerisches Nähern, indem den Quadraten weitere einbeschrieben werden, deren Seitenlängen gemessen und daraus der Flächeninhalt berechnet wird.

    Tab. 10.2: Intervallschachtelung zur Bestimmung von \(\sqrt{8}\)
    \(a_1^2\) \(a_1 \leq \sqrt{8\,\mathrm{cm}^2} \leq a_2\) \(a_2^2\)
    \(4\,\mathrm{cm}^2\) \(2\,\mathrm{cm} \leq \sqrt{8\,\mathrm{cm}^2}\leq 3\,\mathrm{cm}\) \(9\,\mathrm{cm}^2\)
    \(7{,}84\,\mathrm{cm}^2\) \(2{,}8\,\mathrm{cm} \leq \sqrt{8\,\mathrm{cm}^2}\leq 3\,\mathrm{cm}\) \(9\,\mathrm{cm}^2\)
    \(7{,}84\,\mathrm{cm}^2\) \(2{,}8\,\mathrm{cm} \leq \sqrt{8\,\mathrm{cm}^2}\leq 2{,}9\,\mathrm{cm}\) \(8{,}41\,\mathrm{cm}^2\)
    \(7{,}84\,\mathrm{cm}^2\) \(2{,}8\,\mathrm{cm} \leq \sqrt{8\,\mathrm{cm}^2}\leq 2{,}85\,\mathrm{cm}\) \(8{,}1225\,\mathrm{cm}^2\)
    \(\vdots\)

    All die Handlungen haben gemeinsam, dass dabei zwar an konkreten Quadraten mit bestimmten Flächeninhalten und Seitenlängen agiert wird, allerdings sind sie verallgemeinerbar und in ihrer Ausführung nicht an die genutzen Größen- und Zahlenwerte gebunden. Die mit den Lernhandlungen verbunden Aufgabenstellungen sollten dabei über eine Kernfrage in ihrer Vorschauperspektive begleitet werden. Aus dem Lernziel heraus lässt sich beispielsweise formulieren (siehe Barzel et al., 2016, S. 94): »Warum ist es so schwierig, das Quadrieren rückwärts zu rechnen?«

  4. Die etappenweise Verinnerlichung von Handlungen bietet sich insbesondere für die dritte Lernhandlung an (in der die Wurzeln näherungsweise bestimmt werden), da in dieser Handlung alle vorherigen Zusammenhänge integriert sind. Eine materielle bzw. materialisierte Handlung ist schwer zu identifizieren, ggf. noch das Ausmessen der Seitenlänge eines Quadrates. In der sprachlichen Handlung sollte das Vorgehen der Intervallschachtelung von den Schülerinnen und Schülern beschrieben werden. Die geistige Handlung ist dann das Ausführen der Intervallschachtelung selbst (wobei natürlich die errechneten Zahlen notiert werden).

    Die bei der Diskussion der Lernhandlungen dargestellten wesentlichen Begriffseigenschaften müssen nun den Schülerinnen und Schülern über die Verallgemeinerung der Lernhandlungen explizit gemacht werden. Dies kann bspw. im Unterrichtsgespräch erfolgen, indem das Vorgehen am konkreten Beispiel reflektiert und dabei das Allgemeine daran herausgearbeit wird. Es müssen natürlich nicht Begriffe wie nicht-Linearität, Monotonie und Intervallschachtelung genutzt werden, aber deren inhaltliche Aussagekraft muss sichtbar werden. Daraus abgeleitet bietet sich folgende Definition der Wurzel an:

    Die Wurzel einer nichtnegativen Zahl \(A\) ist diejenige nichtnegative Zahl \(a\), für die \(a^2 = A\) gilt.

    Man schreibt: \(a = \sqrt{A}\).

    Beispiel: \(\sqrt{9} = 3\), denn \(3^2 = 9\).

    Veranschaulichung der Wurzel

    Abb. 10.2: Veranschaulichung der Wurzel

    Achtung! Es ist zwar \((-3)^2 = 9\), aber \(\sqrt{9} \neq -3\), da \(-3\) negativ ist. Außerdem ist \(\sqrt{-9}\) nicht definiert, da \(-9\) negativ ist.

    In der Definition werden beschreibende Elemente mit der ikonischen und symbolischen Darstellungsebene in Bezug gebracht. Abbildung 10.2 kann gleichzeitig als Lernmodell aufgefasst werden: Sie veranschaulicht den Begriff und stellt gleichzeitig dar, wie zum Begriff gelangt werden kann. Damit liefert sie auch eine anschauliche Orientierung, wie das näherungsweise Bestimmen von Wurzeln über das Einbeschreiben von Quadraten erfolgen kann (siehe Abbildung 10.3).

    Nutzung des Lernmodells für die Intervallschachtelung

    Abb. 10.3: Nutzung des Lernmodells für die Intervallschachtelung

    Auch die Auswahl des Beispiels \(\sqrt{9}=3\) war nicht zufällig. Als Einstiegsbeispiel sollte ein leicht nachvollziehbares gewählt werden, daher sollte es sich um (möglichst kleine) natürliche Zahlen handeln und nicht mit Einheiten agiert werden. \(\sqrt{0}\) und \(\sqrt{1}\) fallen weg, da dies Spezialfälle sind, in denen die Werte für Wurzel und Quadrat identisch sind. \(\sqrt{4}\) ist ebenfalls ungünstig, weil dann bei der Erklärung der Umkehrung \(2^2 = 4\) die Ziffer \(2\) doppelt (und in verschiedenen Funktionen) auftaucht, nämlich als Basis und als Exponent. Um derartige Anfangsverwirrungen zu vermeiden, ist dann \(\sqrt{9}\) das nächstliegende Einstiegsbeispiel. Entsprechend dem Kontrastprinzip müssen auch nahe Gegenbeispiele wie \(\sqrt{-9}\) sowie \(\sqrt{9}\neq -3\) gebracht werden. Das Variationsprinzip für die Auswahl von Beispielen kann über die verschiedenen Quadrate am Ausgangskonkretum erfüllt werden, in dem dort etwa nicht nur natürliche Zahlen auftreten.

  5. Anschließend erfolgen vertiefende Übungen und die Betrachtung weiterer Zusammenhänge, anhand derer das Begriffsverständnis vertieft wird.

    • Beim Wurzelbegriff geht dies insbesondere mit der Zahlbereichserweiterung in die reellen Zahlen einher. Dabei werden Wurzeln als Zahlen (und nicht Seitenlängen) aufgefasst und bspw. auch auf dem Zahlenstrahl geordnet.

    • Eine weitere charakteristische Anwendung der Lernhandlungen am Lernmodell ist bei der Betrachtung des Wurzelgesetzes \(\sqrt{x\cdot y} = \sqrt{x}\cdot \sqrt{y}\) möglich. Wird die Wurzel als Aufforderung verstanden, zu einem Flächeninhalt die Seitenlänge des zugehörigen Quadrates zu finden, kann man den Term \(\sqrt{9\cdot 5}\) auffassen als die Suche nach der Seitenlänge des Quadrates mit dem \(9\)-Fachen des Flächeninhalts von \(5\,\mathrm{cm}^2\). Geometrisch interpretiert und angelehnt ans Lernmodell kann dies als ein Quadrat von Quadraten dargestellt werden (siehe Abbildung 10.4). Dann ist die gesuchte Seitenlänge gerade das \(\sqrt{9}\)-Fache der Seitenlänge des Quadrates mit \(5\,\mathrm{cm}^2\) Flächeninhalt, also \(\sqrt{9\cdot 5} = \sqrt{9}\cdot \sqrt{5}\). Dies ist natürlich nur eine Plausibilitätsbetrachtung. Eine Begründung ist dann aber ebenfalls mithilfe der Definition über die Umkehrung und Nutzung der Potenzgesetze möglich: \(x^2\cdot y^2 = (x\cdot y)^2\).

    Nutzung des Lernmodells für Quadrate von Quadraten

    Abb. 10.4: Nutzung des Lernmodells für Quadrate von Quadraten

10.3 Kombinatorik

Eine Herausforderung kombinatorischer Fragestellungen besteht für Schülerinnen und Schüler oftmals in der korrekten Zuordnung zwischen kombinatorischer Situation und dem entsprechenden mathematischen Modell. Bei fehlendem Verständnis kann es daher in der Unterrichtsrealität schnell zum Raten kommen, welches der vier Modelle aus dem Tafelwerk gewählt wird (vgl. Tabelle 10.3).

Tab. 10.3: Typische Darstellung von Kombinatorik-Modellen in Tafelwerken
mit Wiederholung ohne Wiederholung
Variation mit Beachtung der Reihenfolge \(n^k\) \(\frac{n!}{(n-k)!}\)
Kombination ohne Beachtung der Reihenfolge \(\binom{n+k-1}{k} = \frac{(n+k-1)!}{k!(n-1)!}\) \(\binom{n}{k}=\frac{n!}{k!(n-k)!}\)

Es soll hier nicht diskutiert werden, wie die entsprechenden Formeln begründet werden können oder in welcher Reihenfolge sich welche Einführung anbietet. Vielmehr soll überlegt werden, welche Unterstützungsmöglichkeiten Schülerinnen und Schülern geboten werden können, um verständnisfördernd Situationen den entsprechenden mathematischen Modellen zuordnen zu können. Im Prinzip sind diese Unterstützungsmöglichkeiten selbst wieder Modelle als »Brücke zwischen einer stochastischen Realsituation und dem formalen Modell« (Tietze et al., 2002, S. 197).

Zunächst gilt in allen vier Fällen: Aus einer Gesamtheit von \(n\) Objekten werden (unter bestimmten Voraussetzungen) \(k\) Objekte ausgewählt und (unter bestimmten Voraussetzungen) auf Plätze verteilt. Die Voraussetzung der Auswahl bestimmt, ob es sich um einen Vorgang mit oder ohne Wiederholung handelt. Die Voraussetzung der Verteilung ist mit oder ohne Beachtung der Reihenfolge.

Die Dichotomie »mit Beachtung der Reihenfolge« – »ohne Beachtung der Reihenfolge« kann auch über die Frage »Ist es relevant, ob ich im Nachhein meine Objekte umsortiere oder nicht?« betrachtet werden. Eine Repräsentation sollte diese Relevanz der Reihenfolge unterstützen. Abbildung 10.5 zeigt einen entsprechenden Vorschlag.

Repräsentation für Auswahl mit (links) und ohne (rechts) Beachtung der Reihenfolge

Abb. 10.5: Repräsentation für Auswahl mit (links) und ohne (rechts) Beachtung der Reihenfolge

Die Dichotomie »mit Zurücklegen« – »ohne Zurücklegen« kann alternativ auch als »mit Wiederholung« – »ohne Wiederholung« aufgefasst werden. Darf nicht wiederholt werden, ergibt sich schnell, dass \(n\geq k\) gelten muss, da sonst nicht genügend Objekte vorhanden sind, aus denen gewählt wird. Die wählbaren Objekte können also als Ansammlung in einem großen Topf aufgefasst werden, aus dem sie jweils einmalig gezogen werden können. Bei Wiederholung kann einerseits die Auffassung bestehen, dass die Objekte zurückgelegt werden dürfen (z. B. beim Ziehen bestimmter farbiger Kugeln), andererseits dass das Objekt hinreichend oft verfügbar ist (wenn z. B. Früchte für einen Obstsalat ausgewählt werden oder wenn bei einem Zahlenschloss jeweils die Ziffern 0 bis 9 zur Verfügung stehen). Abbildung 10.6 macht einen Vorschlag, wie dies allgemein repräsentiert werden kann.

Repräsentation für Auswahl ohne (links) und mit (rechts) Wiederholen/Zurücklegen

Abb. 10.6: Repräsentation für Auswahl ohne (links) und mit (rechts) Wiederholen/Zurücklegen

Daraus ergeben sich nun die vier Optionen, dargestellt als Tabelle in Abbildung 10.7.

Tabelle zur Variation/Kombination mit unterstützenden Repräsentationen

Abb. 10.7: Tabelle zur Variation/Kombination mit unterstützenden Repräsentationen

Diese Repräsentation kann nun unterstützen, Realsituationen zu abstrahieren und dann dem entsprechenden mathematischen Modell zuzuordnen.

References

Barzel, B., Hußmann, S., Leuders, T., & Prediger, S. (Hrsg.). (2016). Mathewerkstatt. 9, Schulbuch (Mittlerer Schulabschluss, allgemeine Ausg., 1. Aufl.). Cornelsen.
LISUM. (o. J.-g). Materialien zur Diagnose und Förderung im MathematikunterrichtLeitideeZahlen und Operationen". Abgerufen 28. Januar 2022, von https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/rlp-online/c-faecher/mathematik/materialien/materialien-zur-diagnose-und-foerderung-im-mathematikunterricht-leitidee-zahlen-und-operationen
LISUM. (2021). Materialien zur Diagnose und Förderung im MathematikunterrichtLeitideeZahlen und Operationen". Inhaltliches Konzeptbild. https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/rlp-online/Teil_C/Mathematik/Materialien/Materialien_zum_Themenfeld1_Zahlen_und_Operationen/070_L1_Konzeptbild.pdf
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Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.). (2018). Rahmenlehrplan für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe im Land Brandenburg.
Padberg, F., & Benz, C. (2021). Didaktik der Arithmetik: fundiert, vielseitig, praxisnah (5., überarbeitete Aufl.). Springer Spektrum.
Padberg, F., & Wartha, S. (2017). Didaktik der Bruchrechnung (5. Aufl.). Springer Spektrum. https://doi.org/10.1007/978-3-662-52969-0
Schulz, A. (o. J.). Materialien zur Diagnose und Förderung im MathematikunterrichtLeitideeZahlen und Operationen“. Didaktischer Kommentar. Abgerufen 28. Januar 2022, von https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/rlp-online/Teil_C/Mathematik/Materialien/Materialien_zum_Themenfeld1_Zahlen_und_Operationen/069_L1_Didaktischer_Kommentar.pdf
Schulz, A., & Wartha, S. (2021). Zahlen und Operationen am Übergang Primar-/Sekundarstufe: Grundvorstellungen aufbauen, festigen, vernetzen. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62096-0
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Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. (2005). Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. Beschluss vom 15.10. 2004. Luchterhand. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_10_15-Bildungsstandards-Mathe-Primar.pdf
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Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. (2022a). Bildungsstandards für das Fach Mathematik Erster Schulabschluss (ESA) und Mittlerer Schulabschluss (MSA). (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004 und vom 04.12.2003, i.d.F. vom 23.06.2022). https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2022/2022_06_23-Bista-ESA-MSA-Mathe.pdf
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. (2022b). Bildungsstandards für das Fach Mathematik Primarbereich. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004, i.d.F. vom 23.06.2022). https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2022/2022_06_23-Bista-Primarbereich-Mathe.pdf
Tietze, U.-P., Klika, M., & Wolpers, H. (Hrsg.). (2002). Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II. Band 3: Didaktik der Stochastik. Vieweg+Teubner Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-83144-6
Wikipedia. (2022c). Kultusministerkonferenz — Wikipedia, die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kultusministerkonferenz&oldid=228417777

  1. Mehr zur Kultusministerkonferenz (KMK) und ihrer eigentlichen Bezeichnungen siehe Wikipedia (2022c).↩︎

  2. Mehr zu diesen Begriffen siehe im Kapitel 6.1 des Skripts von 2021/22 zur Stoffdidaktik Mathematik↩︎

  3. Dies wird bei höheren Exponenten sogar noch bedeutsamer: Dort ist \((-3)^3 = -27\). Die Gleichung \(x^3 = -27\) ist im Reellen sogar eindeutig lösbar (im Komplexen dagegen hat sie drei Lösungen), aber \(\sqrt[3]{-27}\) ist nicht definiert. Gerade, weil einige Taschenrechner fälschlicherweise die dritte Wurzel aus \(-27\) mit \(-3\) angeben, muss auf eine derartige Gefahr eingegangen werden, wenn Wurzeln höherer Exponenten behandelt werden. Dies zeigt einmal mehr, dass Sie als Lehrkraft über den aktuellen Unterrichtsstoff (z. B. Quadratwurzeln) hinausdenken müssen (z. B. Kubikwurzeln), um Rückschlüsse ziehen zu können, welche inhaltlichen Besonderheiten zu betonen sind.↩︎

  4. Die fachmathematische Grundlage hierfür ist, dass Cauchy-Folgen in den reellen Zahlen immer konvergieren und sich die nichtnegative Lösung der Gleichung \(x^2 = a\) mit \(a\geq 0\) über eine rationale Cauchy-Folge nähern lässt – konkret mit dem Heron-Verfahren.↩︎

  5. Hier lohnt es sich übrigens, auf die Wortherkunft einzugehen und zu begründen, warum Radieschen als solche bezeichnet werden.↩︎