6 Kernideen und Kontexte

Ziele

  • Sie kennen das Konzept von Kernideen als das Wesen des Lerngegenstands aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler.
  • Sie kennen Kernideen zu einzelnen Lerngegenständen.
  • Sie können gegebene Kontexte zu Lerngegenständen hinsichtlich ihrer Sinnstiftung beurteilen.
  • Sie sind sich der Möglichkeiten und Bedeutung horizontaler und vertikaler Mathematisierung bewusst.

Material

6.1 Begriffsklärung Kernidee/-frage

Kernideen haben die Aufgabe, den Lernpfad zu leiten und dabei sinnstiftend das Wesen des neuen Lerngegenstands sichtbar zu machen. Sie müssen dabei sowohl aus objektiver (also mathematischer) Perspektive tragfähig sein, als auch aus subjektiver Perspektive für die Schülerinnen und Schüler greifbar werden können. Kernideen bieten damit im Vorfeld des Lernpfades eine Orientierung und im Nachgang des Lernpfades eine Reflexionsmöglichkeit über den Lerngegenstand.15 Um bei den Schülerinnen und Schülern Lernprozesse zu einem Lerngegenstand zu initiieren, werden die Kernideen ansprechend in Form von Kernfragen formuliert. Kernfragen sollten daher prinzipiell aus subjektiver Sicht formuliert sein und insbesondere adressieren, wie man selbst mit dem Lerngegenstand umgehen kann.

Am Beispiel des Funktionsbegriffs etwa besteht eine Kernidee darin, dass Funktionen den Zusammenhang zwischen zwei Größen beschreiben und damit auch vorhersagen können (vgl. auch Aspekte des Funktionsbegriffs in Kapitel 12). Als Kernfrage formuliert: »Wie kann man die Beziehung zwischen zwei sich verändernden Größen beschreiben und wie kann man damit weitere Werte bestimmen?« (Thiel-Schneider, 2018, S. 49).

In der Vorschauperspektive heißt das, die »Kernidee in Frageform schließt an individuelle Vorerfahrungen, Zielperspektiven, Denk- und Handlungsmuster der Lernenden an und initiiert die Auseinandersetzung mit dem mathematischen Gegenstand in den Worten von Schülerinnen und Schülern« (Leuders et al., 2011, S. 8). In der Rückschauperspektive dagegen können über die Kernidee (dann quasi als Antwort auf die Kernfrage) »eine allgemeine Problemstellung und die zu ihrer Bewältigung notwendigen mathematischen Konzepte benannt« werden (Leuders et al., 2011, S. 8).

Definition 6.1 (Kernidee und Kernfrage) Eine Kernidee beschreibt unter sinnstiftender Perspektive das mathematische Wesen eines Lerngegenstands.

Eine Kernfrage stellt die Kernidee in Frageform aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler dar.

Kernideen und Kernfragen verfolgen eine Vorschauperspektive, die der Orientierung und Initiierung der Auseinandersetzung mit dem neuen Lerngegenstand dient, sowie eine Rückschauperspektive, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, den Lerngegenstand einzuordnen.

Bestandteil Ihrer stoffdidaktischen Analyse auf der konkreten Ebene wird es also sein, zum Lerngegenstand passende Kernideen zu identifizieren und in Form von Kernfragen zu formulieren. Hierzu kann Ihnen die Sinnkonstituierung der jeweiligen Grundvorstellungen dienlich sein (siehe Definition 4.1).

6.2 Begriffsklärung Kontext

Kontexte sollen geeignet sein, sich dem Lerngegenstand exemplarisch zu nähern. Sie weisen damit immer eine Spezialisierung bzw. Konkretisierung des zu betrachtenden Lerngegenstands auf (denn nur so können die Schülerinnen und Schüler einen Zugang dazu finden) – sollen aber so gestaltet sein, dass an Ihnen das Allgemeine erfahrbar ist (denn nur so kann es zu einer Beschäftigung mit der dahinterliegenden Mathematik kommen). Angelehnt an die Sinnstiftung der obigen Kernideen und Kernfragen, kann auch von einem sinnstiftenden Kontext gesprochen werden.

Leuders et al. (2011, S. 4, Hervorhebungen im Original) formulieren hierzu:

Definition 6.2 (Sinnstiftender Kontext) Ein sinnstiftender Kontext ist ein Ausschnitt einer inner- oder außermathematischen Welt, der folgende Anforderungen möglichst gut erfüllt:

  • Er ist anschlussfähig an die Erfahrungen, Interessen und die Denk- und Handlungsmuster der Lernenden (Lebensweltbezug).
  • Er ermöglicht es, authentische Fragen zu bearbeiten und dabei auch etwas über den Kontext zu lernen (Kontextauthentizität).
  • Er ist problemhaltig und offen genug, um Lernende zum reichhaltigen Fragen und Erkunden anzuregen (Reichhaltigkeit).

Um einer eingeschränkten Sichtweise vorzubeugen, sei gesagt: Der Lebensweltbezug heißt nicht zwingend, dass es sich um einen Realitätsbezug (im Sinne einer Modellierung) handeln muss. Dies ist zwar in vielen Fällen angebracht, aber auch eine innermathematische Anschlussfähigkeit kann für die Schülerinnen und Schüler ansprechend sein (und damit Bezug zu deren – schulischen – Leben herstellen).

Ein möglicher Kontext, über den die oben formulierte Kernfrage bei linearen Funktionen erarbeitet werden kann, wäre die Beschreibung des Abbrennverhaltens einer Kerze (vgl. Böer et al., 2014, 108 f). Dieser ist für die Schülerinnen und Schüler aus dem Alltag bekannt (wenn auch nicht alltäglich). Authentisch und reichhaltig ist der Kontext dahingehend, dass die meisten Kerzen zylinderförmig sind und daher tatsächlich ein lineares Abbrennverhalten haben. Auch ist es durchaus von Interesse, die Zeit bis zum vollständigen Abbrennen einer Kerze abschätzen zu können (z. B. bei einer Kerzenuhr, vgl. Wikipedia, 2022a). Weiterhin können (später) die Eigenschaften des Funktionsgraphen kontextgebunden interpretiert werden (\(y\)-Achsenabschnitt als Ursprungslänge der Kerze, Nullstelle als die Zeit bis zum vollständigen Abbrennen, Anstieg des Graphen als Abbrennverhalten, das direkt mit der Dicke der Kerze in Verbindung gebracht werden kann).

Das Finden derartiger stinnstiftender Kontexte ist enorm anspruchsvoll! Sie sollten hier auf (gute) Lehrwerke zurückgreifen und immer wieder mögliche Kontexte kritisch (mithilfe der Definition 6.2) hinterfragen.

Kernideen/Kernfragen und der sinnstiftende Kontext bilden damit eine Einheit in der Motivierung und Zielbildung zu Beginn der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand, siehe auch Abschnitt 8.2.

6.3 Mathematisierungstypen

Während Kernideen, Kernfragen und Kontexte in erster Linie der Spezifizierung des Lerngegenstandes in Hinblick auf den Lernpfad dienen, kann zur Strukturierung der Prozess der Mathematisierung stärker in den Blick genommen werden. Angelehnt an Treffers und Freudenthal stellt van den Heuvel-Panhuizen (2003, S. 12) hierzu dar, dass prinzipiell zwei Wege der Mathematisierung möglich sind:

  • Bei der horizontalen Mathematisierung werden mithilfe mathematischer Objekte und Operationen reale Situationen und alltägliche Probleme beschrieben, geordnet und gelöst. Es wird also aus der Welt des Lebens in die Welt der Symbole übergegangen.16

  • Bei der vertikalen Mathematisierung wird innerhalb des mathematischen Systems reorganisiert und operiert, es wird sich also in der Welt der Symbole bewegt.17

Beide Arten sind nicht als Konkurrenten aufzufassen, sondern haben ihre gleiche Berechtigung im Mathematikunterricht. Dies ist v. a. vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Mathematik vom Menschen betrieben wird. Erst durch das Zusammenwirken von horizontaler und vertikaler Mathematisierung kann Mathematik unter dieser Annahme auf ehrliche Weise durchgeführt und damit auch verstanden werden. Dies heißt insbesondere, dass in jeder Klassenstufe beide Arten der Mathematisierung ihre Berechtigung haben und entsprechend realisiert werden müssen.18

Das oben dargestellte Kerzenbeispiel entstammt der horizontalen Mathematisierung. Eine vertikale Mathematisierung könnte bspw. im weiteren Lernverlauf – etwa nachdem die Funktionsgleichung \(y = m\cdot x + n\) eingeführt wurde – die Untersuchung des Einflusses der Parameter \(m\) und \(n\) auf den Funktionsgraphen sein. Daran zeigt sich schon, wie hilfreich eine gleichermaßen Betrachtung horizontaler und vertikaler Prozesse ist, nämlich wenn etwa nach einer Veränderung von \(m\) und \(n\) rückgefragt wird, inwieweit dies noch mit den Abbrennen einer Kerze in Zusammenhang steht (was spätestens bei einem positiven \(m\) an seine Grenzen stößt). Derartige Grenzbetrachtungen (die mathematisch greifbar sind, aber in der Realität eben an ihre Grenzen stoßen) bieten ein enormes Potenzial, sich dem abstrakten Wesen von Mathematik zu nähern.

6.4 Zum Nachbereiten

  1. Entwickeln Sie für den Begriff der Exponentialfunktion eine Kernfrage.
  2. Untersuchen Sie, inwieweit folgende Kontexte für Exponentialfunktionen sinnstiftend sind:
    • Bakterienwachstum
    • Bierschaumzerfall
  3. Beschreiben und erklären Sie je eine geeignete Variante der horizontalen und vertikalen Mathematisierung am Lerngegenstand der Exponentialfunktion.

References

Böer, H., Göckel, D., Kliemann, S., Koepsell, A., Puscher, R., Schmidt, W., & Vernay, R. (2014). Mathe live. 8, Schülerbuch (1. Aufl.). Klett.
Leuders, T., Hußmann, S., Barzel, B., & Prediger, S. (2011). Das macht Sinn! Sinnstiftung mit Kontexten und Kernideen. Praxis der Mathematik in der Schule, 53(37), 2–9. https://www.researchgate.net/publication/233978329
Thiel-Schneider, A. (2018). Zum Begriff des exponentiellen Wachstums. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21895-9
van den Heuvel-Panhuizen, M. (2003). The didactical use of models in realistic mathematics education: An example from a longitudinal trajectory on percentage. Educational Studies in Mathematics, 54, 9–35. https://doi.org/10.1023/B:EDUC.0000005212.03219.dc
Wikipedia. (2022a). Kerzenuhr — Wikipedia, die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kerzenuhr&oldid=227115991

  1. Der Begriff der Kernidee ist geprägt worden über das Dialogische Lernen nach Gallin und Ruf, spricht dort jedoch vorwiegend die Vorschauperspektive an (vgl. Leuders et al., 2011, S. 7).↩︎

  2. im Original: »In the case of horizontal mathematizing, mathematical tools are brought forward and used to organize and solve a problem situated in daily life. […] to mathematize horizontally means to go from the world of life to the world of symbols« (van den Heuvel-Panhuizen, 2003, S. 12)↩︎

  3. im Original: »Vertical mathematizing, on the contrary, stands for all kinds of re-organizations and operations done by the students within the mathematical system itself. […] to mathematize vertically means to move within the world of symbols« (van den Heuvel-Panhuizen, 2003, S. 12)↩︎

  4. im Original: »Freudenthal emphasized, however, that the differences between these two worlds are far from clear cut, and that, in his view, the worlds are not, in fact, separate. Moreover, he found the two forms of mathematizing to be of equal value, and stressed the fact that both activities could take place on all levels of mathematical activity.« (van den Heuvel-Panhuizen, 2003, S. 12)↩︎